15. Juli 2022

Materialeigenschaften auswerten leicht gemacht

Das Ziel war es, die Interpretation von DSC-Kurven für die thermische Analyse zu erleichtern. Die STARe Software von Mettler-Toledo wurde um eine effiziente KI-Softwareoption, AIWizard, erweitert, die in Zusammenarbeit mit dem CSEM und der ZHAW entwickelt wurde.

Dynamische Differenzkalorimetrie. Copyright: Mettler Toledo.

Kunden stellen heutzutage hohe Ansprüche an alle Arten von Materialien. Ein Dichtungsring, der nicht spröde werden darf, eine PET Flasche, die sich nicht verformen sollte oder Medikamente, die genau im richtigen Moment im Körper zu wirken beginnen müssen. In der Materialwissenschaft sind die dynamische Differenzkalorimetrie (DDK, englisch DSC) von Mettler-Toledo nicht mehr wegzudenken.

Die Thermische Analyse leistet einen wertvollen Beitrag in der Qualitätskontrolle bis hin zur Forschung und Entwicklung von Materialien und chemischen Verbindungen.

Es ist nicht trivial, Materialeigenschaften zu beurteilen.

Alle Materialien haben die Eigenschaft, dass sie Energie in Form von Wärme aufnehmen oder abgeben können. Die DSC ist die wichtigste Methode der Thermischen Analyse. Die DSC misst den Wärmestrom einer Probe als Funktion der Temperatur oder der Zeit. Mit der DSC können physikalische Umwandlungen und chemische Reaktionen quantitativ erfasst werden.

Die DSC zeichnet sich durch eine hohe Empfindlichkeit, Genauigkeit und einfache Probenpräparation, Automatisierungsmöglichkeit und geringe Messzeit aus. In allen Bereichen, in denen thermische Grössen bestimmt, thermische Prozesse untersucht sowie Materialien charakterisiert oder verglichen werden, wird die DSC eingesetzt. Dabei werden Fragestellungen nach Stabilität, Einsatz- und Verarbeitungsbedingung, Fehlererkennung, Schadensanalyse, Materialidentifizierung, Stabilität, Reaktivität, chemischer Sicherheit und Reinheit von Materialien beantwortet. Es können unter anderem Polymere wie Thermoplaste, Duroplaste, Elastomere, Kompositwerkstoffe, Klebstoffe, aber auch Nahrungsmittel, Pharmazeutika und Chemikalien untersucht werden.

Die dadurch gewonnen Kurven sind «Wärmekapazität in Abhängigkeit der Temperatur». Interessant sind die Temperaturen, bei denen sich die Wärmekapazität ändert – diese Bereiche werden «Effekt» genannt.

Effekte sind physikalische oder chemische Übergänge – also Phasenübergänge wie beispielsweise Kristallisationen, Schmelzen, Glasumwandlungen oder chemische Reaktionen. Die wichtigen Informationen über die Materialeigenschaften stecken in der genauen Form und Ausprägung dieser Effekte. Die Kurvenform und der Temperaturbereich beinhalten Informationen, die der Anwender zur Interpretation der Effekte verwendet.

Die Auswertung von Messkurven ist zeitaufwendig und herausfordernd, selbst für Spezialisten. Die Projektidee war, die Anwender mittels Künstlicher Intelligenz (KI, englisch AI) zu unterstützen.

Teresa Dennenwaldt, Mettler-Toledo Applikationsspezialistin: «Wir von Mettler-Toledo waren und sind sehr froh, uns auf das Spezialwissen der Projekt-Partner verlassen zu können».  Copyright: Mettler Toledo

Spezialwissen wurde perfekt gebündelt

Die Idee wurde von Mettler-Toledo im "Data Innovation Alliance" Netzwerk öffentlich ausgeschrieben. Verschiedene Institute und Universitäten meldeten ihr Interesse an. Die Wahl fiel auf ein Konsortium zweier Forschungspartner – der ZHAW für statistische Methoden und zur Sicherstellung der Robustheit durch statistische Signifikanzanalysen, sowie dem CSEM, welches seine mehr als 12-Jährige Praxiserfahrung im Bereich Deep Learning in industriellen Anwendungen in das Projekt einbringen konnte.

Mettler-Toledo hat die gesamte Domainexpertise in das Projekt eingebracht – sowie auch die Integration der entwickelten KI-Lösung in die kommerzielle STARe Software. Zusätzlich hat Mettler-Toledo eine grosse Anzahl von Expertendaten für das Projekt aufgearbeitet, basierend auf vielen Messungen, die in der Vergangenheit für Publikationen und Referenzbibliotheken gemessen wurden.

Die ZHAW entwickelte statistische Methoden zur Bereinigung der Daten, zur Analyse der Expertendaten, Erkennung von fehlerhaften Labels und zum robusten automatischen Setzen der Messtangenten. Die Aufgabe des CSEM lag in der Entwicklung des Neuronalen Netzwerks, der robusten Trainingsalgorithmen inklusive Data Augmentation und Generation, sowie der Validierung und Plausibilitätsprüfung der Ergebnisse.

Das Projektergebnis ist eine neue Software Option, AIWizard genannt, welche in die bereits etablierte STARe Software integriert wurde. Sie ermöglicht neu vollautomatische Auswertungen thermoanalytischer Messkurven unbekannter Proben.

Künstliche Intelligenz: Der Weg zum Erfolg

Besonders herausfordernd ist die Festlegung der Effektgrenzen – also wo ein solcher Effekt beginnt – und wo er aufhört. Diese Übergänge sind in vielen Fällen fliessend, aber eine genaue Positionierung essentiell, um Informationen über den Effekttyp (z. B. Schmelzen, Kristallisation, Glasübergang) zu erhalten. Hier kommt die KI ins Spiel. Das Ziel war stets, den komplexen und oft auch fehleranfälligen Teil der Effektbestimmung zu automatisieren und dabei das Wissen und die Erfahrung vieler Experten aus unterschiedlichen Domänen zusammenzubringen.

Erfahrene Mitarbeiter waren anfänglich sehr skeptisch. Aussagen wie "die automatisierte Auswertung ist überhaupt nicht möglich" wurden geäussert. Am Schluss überzeugte die Lösung: "die Ergebnisse haben meine Erwartungen weit übertroffen".

Neuronale Netzwerke sind datenhungrig, weshalb viele Expertendaten nötig waren. Um den Datensatz aus hunderten Messungen weiter zu vergrössern, wurden tausende künstliche Daten erzeugt – diesen Prozess nennen wir Data Augmentation und Data Generation. Es ist wichtig, die physikalisch ablaufenden Prozesse zu berücksichtigen. Unter Data Generation versteht man, durch Modellierung der Prozesse oder Rekombination von echten Daten, neue Datensätze zu erzeugen.

«Wir haben viel gelernt, wie neue Technologien heute Kundennutzen schaffen. Ohne das Spezialwissen der Projekt-Partner hätten wir die Idee nicht umsetzen können.» Urs Jörimann, Mettler-Toledo Projektleiter.

Das Projekt wurde durch die Schweizerische Agentur für Innovationsförderung, Innosuisse (Projekt Nummer: 35056.1 IP-ENG).